Die Behandlung der Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) mit Medikamenten wird in der Öffentlichkeit sehr kontrovers diskutiert. Es existieren viele Vorbehalte und Gegenstimmen, die teilweise unberechtigt, teilweise aber auch ernst zu nehmen sind.
Manche Experten sprechen sich deutlich für eine medikamentöse Therapie aus, mit der nicht gewartet werden sollte, bis Familie und Umgebung völlig erschöpft sind und die Schwierigkeiten zu sekundären Schäden geführt haben. Andere Experten vertreten die Meinung, Stimulanzien erst dann einzusetzen, wenn die Verhaltensauffälligkeiten so stark ausgeprägt sind, dass die weitere Entwicklung eines Kindes, in der Schule oder in seinem Sozialverhalten, gefährdet ist und andere Therapiemaßnahmen keinen Erfolg brachten.
Als Mittel der ersten Wahl gelten Psychostimulanzien, von denen Methylphenidat heute am weitesten verbreitete Substanz ist. Als Mittel der zweiten Wahl werden u. a. trizyklische Antidepressiva verordnet.
Eine alleinige Therapie mit Medikamenten ist bei ADHS meist nicht sinnvoll. Die Betroffenen profitieren deutlicher von einer Kombination aus Medikamenten und psychologischer Behandlung. Denn ADHS-Patienten lernen dadurch, neue Strategien zur Kompensation ihres Grundproblems zu entwickeln. Forscher in den USA haben herausgefunden, dass die Verhaltenstherapie ohne Medikamenteneinsatz weniger erfolgreich ist, als eine Verbindung mit einer medikamentösen Therapie.
Vorbehalte gegen eine medikamentöse Therapie bestehen vor allem, weil die Gruppe der Stimulanzien heute deutlich häufiger verschrieben wird als dies noch vor 10 Jahren der Fall war.
In Deutschland ist die Anzahl der verordneten Tagesdosen von Methylphenidat in 5 Jahren um mehr als das vierzigfache gestiegen (1995: 0,7 Mio. Tabletten, 1999: 31 Mio. Tabletten). Manche Experten schätzen, dass 18 Prozent aller in Deutschland lebenden Kinder zur Zeit behandlungsbedürftig sind. Im Vergleich dazu wird die Prävalenz (Häufigkeit) der ADHS in Großbritannien auf 2 Prozent geschätzt. Diese international sehr unterschiedlich angegebene Prävalenz ist v. a. auf diagnostische Unterschiede zurückzuführen. Einige Experten haben Zweifel an der Qualität der Indikationsstellung und warnen, dass nicht jedes unruhige oder verträumte Kind ein ADHS-Patient ist und eine Stimulanzientherapie benötigt.
Die Eltern der hyperaktiven und aufmerksamkeitsgestörten Kinder und Jugendlichen werden durch verwirrende Informationen verunsichert, und haben häufig eine Odyssee von Arztbesuchen und eine Reihe erfolgloser Therapiemethoden hinter sich. Ist die Entscheidung dann für eine medikamentöse Therapie gefallen, wird ihnen nicht selten vorgeworfen, sie wollten ihre Kinder mit Medikamenten „ruhig stellen”, damit sie sich nicht ernsthaft mit ihnen beschäftigen und Zeit mit ihnen verbringen müssen. Dabei fällt Eltern der Schritt zu einer medikamentösen Therapie ohnedies schwer. Die Annahme, man könne Kinder mit Stimulanzien ruhig stellen, ist unrichtig. Die Kinder wirken zwar nach der Einnahme ruhiger, weil sie sich besser auf ihre Tätigkeiten konzentrieren können. Die Stimulanzien wirken im Gehirn jedoch nicht dämpfend, sondern vielmehr als „innere Wachmacher”, was die Kinder aufnahmebereiter macht.
Besorgniserregend wirkt auf viele Menschen, dass Stimulanzien unter das Betäubungsmittelgesetzt gestellt sind und für den Gesunden eine anregende und euphorisierende Wirkung haben. Aus diesem Grund wurde der Wirkstoff Methylphenidat in den 70er Jahren vereinzelt auch in der Drogenszene gehandelt. Der Wirkstoff kann bei Gesunden – in großen Dosen eingenommen – zudem psychisch abhängig machen.
Bei Menschen mit ADHS wirken Stimulanzien völlig anders, sie rufen weder Euphorie hervor noch wirken sie wie ein Beruhigungsmittel. Es besteht für sie auch keine erhöhte Gefahr der Abhängigkeit. Die Betroffenen haben durch die medikamentöse Behandlung vielmehr ein geringeres Risiko für eine spätere Gefährdung durch einen Alkohol- oder Drogenmissbrauch. Mehrere Millionen Kinder und Jugendliche mit ADHS wurden bisher mit Stimulanzien behandelt. Bei ihnen konnte, in der bis heute 60jährigen Erfahrung, kein Zusammenhang zwischen Methylphenidat und einer Drogenabhängigkeit festgestellt werden. Stimulanzien sind die bestuntersuchten Medikamente der Kinder- und Jugendpsychiatrie und gelten bei richtiger Anwendung als sicher. Die verschärften Bedingungen bei der Vergabe von Stimulanzien (Betäubungsmittelgesetz) sind dennoch nötig, um eine bessere Kontrolle über die Verordnung und Verteilung zu haben, damit Missbrauch möglichst verhindert werden kann.
Auch die Befürchtung, Stimulanzien würden die Persönlichkeit des Patienten verändern, sind unbegründet. Vielmehr werden die verborgen gebliebenen Talente und Eigenschaften der Patienten durch die Behandlung eher sichtbar.
Es existiert außerdem die Meinung, die Störung würde sich „auswachsen” oder sei eine charakterliche Eigenschaft, die mit Medikamenten nicht zu therapieren sei. Dass dem nicht so ist, wissen wir heute durch die Erkenntnisse aus der Ursachenforschung (siehe Beitrag Ursachenforschung).
Ärzte und Selbsthilfegruppen sehen in Stimulanzien einen unverzichtbaren Bestandteil der Behandlung hyperaktiver und aufmerksamkeitsgestörter Kinder. Die Patienten spüren meist sehr schnell eine Veränderung. Sie berichten, dass die Stimulanzien wie eine Brille ihr Leben grundlegend verändert haben und ihnen endlich wieder eine klare Sicht der Dinge ermöglichen. Für viele Patienten sind Medikamente eine wichtige Hilfe, ihr Leben in den Griff zu bekommen und von einer begleitenden psychologischen Behandlung profitieren zu können. Falsche Hoffnungen sollte man sich allerdings nicht machen. Stimulanzien sind keine Medikamente, die Kinder mit ADHS in „brave, angepasste Engel” verzaubern, die keine Anleitung oder Erziehung mehr brauchen. Stimulanzien alleine können auch keine bessere Schulleistung bewirken. Es lassen sich mit Medikamenten nicht all jene Probleme lösen, die sich über Jahre entwickelt haben. Dennoch können Stimulanzien eine große Hilfe für die Betroffenen sein.
Gegenstimmen warnen jedoch vor einer unkritischen Anwendung von Methylphenidat. Zwar ist wissenschaftlich hinreichend erwiesen, dass Stimulanzien für Patienten mit ADHS so hilfreich sind wie kaum eine andere Behandlung. Weniger klar ist indes, wann tatsächlich eine ADHS vorliegt. Je geringer die diagnostische Sorgfalt ist, um so größer ist die Gefahr, dass Stimulanzien unnötig und vielleicht sogar schädigend verordnet werden. Der Patient mit ADHS bedarf daher einer sorgfältigen kinderpsychiatrischen, pädiatrischen oder erwachsenenpsychiatrischen Untersuchung. Andere Störungen müssen von ADHS abgegrenzt werden. Nur so kann vermieden werden, dass Stimulanzien bei anderen kinderpsychiatrischen Störungen verschrieben werden, bei denen sie nicht angezeigt sind. Vertrauen Sie sich daher immer einem auf diesem Gebiet erfahrenen Arzt an!
Stimulanzien beeinflussen den Stoffwechsel der Botenstoffe Dopamin und Noradrenalin und können so die neurologischen Besonderheiten der Informations-Verarbeitung bei ADHS günstig beeinflussen.
Etwa 70 bis 85 Prozent der Kinder, die nach gestellter ADHS-Diagnose mit Methylphenidat behandelt werden, profitieren bei exakter Dosierung von der Medikation. Methylphenidat übt seine Wirkung auf den Botenstoff Dopamin aus. Innerhalb einer halben Stunde kann sich die Aufmerksamkeit verbessern, Hyperaktivität und Impulsivität können sich verringern. Die Kinder schreiben z. B. sauberer, machen weniger Fehler, können sich besser konzentrieren, haben mehr Ausdauer und sind oft ausgeglichener. Stimulanzien können zur Entspannung der familiären und schulischen Situation beitragen und die Beziehungen zu Gleichaltrigen verbessern helfen. Die Patienten erleben durch die Medikation meist weniger Frustrationen, wodurch Aggressionen zunehmend ausbleiben.
Für jeden einzelnen Patienten ist eine individuelle Dosisanpassung nötig. Üblicherweise wird die Therapie mit einer niedrigen Dosis begonnen, die dann, falls erforderlich, in wöchentlichen Abständen gesteigert werden kann. Eine Tagesdosis von 60 mg Methylphenidat sollte nicht überschritten werden, um mögliche Nebenwirkungen zu begrenzen. Eine Tagesdosis Methylphenidat wird allgemein in 2 bis 3 Einzelgaben aufgeteilt, um eine gleichbleibende Wirkung zu erzielen. In kontrollierten klinischen Studien hat sich eine Dosierung von 0,5 bis 1,0 mg/kg/Tag als optimal erwiesen (allgemein 2/3 morgens; 1/3 mittags).
ADHS kann durch die Behandlung mit Stimulanzien nicht geheilt werden. Eine Therapie ist oft das ganze Leben lang erforderlich. Bei einigen Patienten kann die medikamentöse Therapie nach mehreren Jahren ganz oder teilweise abgebrochen werden. Wieso das der Fall sein kann, ist wissenschaftlich noch nicht genau belegt. Bei einigen Patienten ist die Einnahme von Stimulanzien nur noch in bestimmten Situationen nötig, wenn z. B. eine Prüfung ansteht oder monotone Arbeiten verrichtet werden müssen.
Bei Erwachsenen ist die Behandlung mit Stimulanzien schwieriger und die Einstellung auf eine erforderliche Dosis problematischer, weil die Verstoffwechslung größeren Einflüssen z. B. durch Hormone, unterliegt. Erwachsene sprechen auch nicht so schnell auf die Therapie an. Oft dauert es Monate, bis erste Erfolge sichtbar werden.
Im Vergleich zu der Wirksamkeit von Stimulanzien sind die Nebenwirkungen sehr gering. In der Anfangsphase kann es zu Kopfschmerzen, Bauchweh, Übelkeit und leichtem Zittern kommen. Mit einem sanften Einschleichen der Medikamentendosis können diese Nebenwirkungen meist vermieden werden.
Häufiger wird eine Appetitminderung beobachtet. Eltern brauchen sich aber keine Sorgen zu machen, denn die Kinder essen deshalb nicht weniger. Am Abend, wenn die Wirkung des Medikaments nachlässt, kommt der Hunger zurück und die Kinder holen mit dem Essen auf.
Einschlafstörungen, die bei Kindern mit ADHS nicht selten sind, können sich durch die Medikamente verstärken, weil durch die nachlassende Wirkung am Abend die Kinder wieder aktiver werden. Hilfreich ist dann eine zusätzliche, kleine Dosis am Abend.
Manche Patienten mit ADHS haben so genannte Tics, gekennzeichnet durch plötzliche, unwillkürliche Bewegungen oder Ausstoßen von Wörtern oder Lauten. Solche Tics können sich in einigen Fällen durch eine Psychostimulanzientherapie verschlimmern.
In Erprobung sind derzeit Stimulanzien, so genannte Depotpräparate, die es den Patienten ermöglichen, die Einnahme während des Tages, z. B. in der Schule wegzulassen. Dadurch würde die Therapie vereinfacht werden und den Kindern bliebe die Rechtfertigung für die Einnahme von Stimulanzien gegenüber Lehrern und Klassenkameraden erspart.
Das Pharmaunternehmen Eli Lilly untersucht seit einigen Jahren eine Substanz, die die Wirkung des Botenstoffs Noradrenalin beeinflusst. Anders als Ritalin® mit dem Wirkstoff Methylphenidat, würde diese Substanz nicht mehr unter das Betäubungsmittelgesetz fallen, da es sich nicht um ein Psychostimulanz handelt. Das Medikament mit dem Wirkstoff Atomoxetin wird voraussichtlich 2004 in Europa auf den Markt kommen.