Das glauben noch immer viele Ärzte, und in der normalgewichtigen Bevölkerung ist das die gängige Meinung. Dem steht entgegen, dass 95 Prozent der Übergewichtigen und extrem Dicken an einer effektiven und nachhaltigen Gewichtsabnahme scheitern; herablassende Blicke und diskriminierende Kommentare sind für sie an der Tagesordnung.
Es handelt sich bei Übergewicht und Adipositas (extremes Übergewicht) keinesfalls um eine Ess-Störung. Nach der Definition der Weltgesundheitsorganisation ist es eine Erkrankung, bei der der körpereigene Stoffwechsel jedes Gramm zugenommenen Körpergewichts für immer und ewig verteidigt.
Im Durchschnitt kommt der Mensch mit etwa 3.500 g auf die Welt und sein gesamtes Streben ist allein auf das Wachstum des Körpers ausgerichtet.
Um das Gewicht nach oben oder unten zu regulieren, greifen der körpereigene Stoffwechsel, das Belohnungssystem im Gehirn und die angesammelten Fettzellen in das Geschehen ein: Es werden Entzündungsmarker und Hormone freigesetzt, die Hunger und Sättigung regulieren und dazu auch an den Stellschrauben des Belohnungssystems drehen.
Sobald in einer Phase der Nahrungsreduktion erste Erfolge des Abnehmens registriert werden, wird dem Gehirn dieser Verlust als eine Notsituation durch Nahrungsmangel signalisiert. Um diesem vermeintlichen „Verhungern“ entgegen zu wirken, werden rasch der Grundumsatz und Energieverbrauch des Körpers herabgesetzt.
Gewichtszunahme ist immer eine Frage der Gesamtbilanz: jede mit der Nahrung aufgenommen Energie (Kalorien) muss vom Grundumsatz oder durch körperlicher Arbeit und Sport wieder verbraucht werden. Werden mit der Ernährung mehr Kalorien aufgenommen als der Körper verbrauchen kann, wird die Bilanz positiv und es kommt unweigerlich zum Gewichtsanstieg. Der normale tägliche Grundumsatz verbraucht soviel Kalorien, wie zur Aufrechterhaltung der Organ- und Gehirnfunktion sowie für die Muskelarbeit erforderlich sind.
Zu den Aufgaben der menschlichen Physiologie gehört es den Organismus vor Verlusten zu schützen. Im Hypothalamus, einer wichtigen Schaltzentrale im Gehirn, wird jedem Gewichtsverlust entgegengesteuert: Energie wird eingespart und Hormone werden aktiv, die permanenten Hunger signalisieren. Die Stoffwechselaktivität wird kaloriensparend gebremst; die Wärmeregulierung energiesparend vermindert. Daher kommt es, dass man friert und Heißhungerattacken erlebt, denen man sich kaum widersetzen kann.
Diese körpereigene Gegenregulation bleibt lange erhalten und wirkt oft noch monatelang nach erfolgreicher Gewichtsabnahme. Sie ist auch verantwortlich dafür, dass der menschliche Organismus als Sollwert immer das jemals erreichte Maximalgewicht anstrebt. Dieser Sollwert lässt sich kaum mehr verstellen, und deswegen münden fast alle Diäten im Jo-Jo-Effekt. Es haben sich durch die Entzündungsaktivität kleinste Narben im Hypothalamus gebildet, die – vergleichbar mit den Narben nach einem Herzinfarkt – einige Funktionen dieser Gehirnregion stören.
Hat sich der Sollwert des Körpergewichts einmal verstellt, können kurzfristige Diäten oder Fasten nur noch wenig ausrichten, weil die körpereigene Physiologie gegen jede Gewichtsabnahme ankämpfen wird. Um dies zu überwinden, wird eine hohe Disziplin erforderlich bei der konsequenten Umstellung der Ernährungs- und Lebensweise.
Zur Therapie und Beseitigung von Übergewicht ist dann eine Veränderung des Lebensstil-Management notwendig, um die ausgewogene Bilanz zwischen Energieaufnahme und Energieverbrauch wieder herzustellen, um Normalgewicht zu erreichen und dauerhaft zu erhalten.
Aktuell wird eine neue Diskussion zur Betrachtung des Übergewichts und der Adipositas in der Wissenschaft geführt. Die familiäre Vererbung steht im Fokus und neue Aspekte der Forschung liefern Hinweis dazu. Bis sich die Gene des Menschen wirklich verändern, vergehen mehr als tausend Jahre. Vielmehr ist der Blick der Forscher auf die Epigenetik gerichtet, die sich relativ rasch den äußeren Bedingungen des Lebens anpasst. Die Theorie, das unsere Vorfahren in den letzten beiden Weltkriegen hungern mussten, könnte Spuren in der epigenetischen Information des „Hungers“ hinterlassen haben, so dass die bevölkerungsweite Epidemie aus Übergewicht und schwerer Adipösen heutzutage als eine Antwort auf das Hungern unserer Urgroßeltern der letzten hundert Jahre interpretiert werden könnte.