Das individuelle Essverhalten unterliegt psychischen, biologischen und sozialen Einflüssen, wobei auch das Bewusstsein und das Unterbewusstsein eine wichtige Rolle spielen.
Im Grunde genommen hat sich auch das gesellschaftliche Selbstverständnis des Körperbildes gewandelt. Die Alten Meister der Malerei stellten die Personen der Oberschicht immer wohlgenährt und eher übergewichtig dar, während die arme Unterschicht als hart arbeitende und schlanke Personen gemalt wurden. Heutzutage ist die finanziell schlechter gestellte Bevölkerung deutlich häufiger übergewichtig bis adipös, und diejenigen der Oberschicht haben Normalgewicht oder neigen zu Untergewicht.
Selbst kulturelle Veränderungen wirken sich auf das Körpergewicht und die damit verbundenen Folgeerkrankungen aus, wie das Beispiel der Pima-Indianer zeigt. Ein Teil der Bevölkerung dieses Stammes hat sich in einer Gegend Mexikos angesiedelt, wo die amerikanische Ernährung vorherrscht, und inzwischen sind 50 Prozent dieser Stammesangehörigen zu Diabetikern geworden. Diejenigen, die im Hochland Mexikos geblieben sind, haben eine Diabetesinzidenz von zwei Prozent.
Die Psyche ist nicht darauf vorbereitet, im Schlaraffenland zu leben, sondern sie nimmt sich, was sie aus dem uneingeschränkten Vorhandensein von Nahrungsmitteln zum Essen bekommen kann. An der individuellen Ernährung ist auch das eigene Körperbild beteiligt. Der Körper ist der Raum, in dem ich bin und stellt auch den Raum dar, den ich mir nehme. Jede psychotherapeutische Intervention von Essstörungen sollte berücksichtigen, was der Über- oder Untergewichtige „verkörpern“ will, und wie oder was er mit seinem Körper kommuniziert.
Kulturelle und wirtschaftliche Interessen sind am idealen Körperbild beteiligt. In Japan ist der Suomo-Ringer sexy und begehrt, bei den Massai ist es der groß gewachsene und schlanke Mensch. Folgt man den Vorgaben der Modezaren, werden als Models auf dem Catwalk nur kindliche Körper zugelassen. An diesen Vorgaben der Modeschöpfer orientiert sich sehr schnell die Kleiderindustrie und manipuliert die „modebewusste“ Bevölkerung. Will man übergewichtige Patienten psychisch oder medizinisch therapieren, muss eine Beziehung vorhanden sein, die den „raumgreifenden“ Patienten mögen muss.
Nicht selten reagieren Therapeuten aber mit Übertragungen und Gegenübertragung auf die Adipösen, nicht zuletzt, weil diese oft beratungs- und therapieresistent sind. Man muss die Grundlagen des Hungers verstehen, der auf unterschiedlichen Ebenen vorhanden ist, und der biologische Mechanismen wie gesteigerte Vitalität zur Nahrungssuche, die Gier und Sattheit bis hin zur absoluten Passivität hervorruft. Das Essen hat einen großen Einfluss auf den Zustand des Menschen.
Alle wichtigen sozialen Zeremonien – Geburtstag, Hochzeit oder Beerdigung – sind mit Essen verbunden, und zwar Essen in der Gemeinschaft. Die moderne Esskultur strahlt dagegen eher Isolation aus, wenn jeder jederzeit die Nahrung zu sich nimmt, die gerade zur Verfügung steht. Zunehmend geht die Familienkultur gemeinsamer Mahlzeiten verloren, die eine wichtige Funktion in der familiären und besonders in der Mutter-Kind-Beziehung einnimmt. Eine Mutter hat seit jeher (auch wegen des Stillens) nicht nur die Funktion der Nahrungsvergabe, sondern sie hat damit auch die Harmonieverantwortung.
Durch das „Wie“ der Nahrungsvergabe werden Sorge, Fürsorge und viele andere Gefühle mitgeteilt. Zu einer zunehmenden Entfremdung vom eigenen Körper und der Familie kommt es, wenn die Nahrungsaufnahme das Erleben von Isolierung verstärkt. Essstörungen und Depressionen nehmen in den modernen Familien zu, und es gehen wichtige Strukturen verloren, die einer gesunden Gesellschaft zugrunde liegen.